Neulich erwähnte Emily Nagoski, dass sie nach guten, kurzen, einführenden Texten über BDSM suchte.
Sie kann nicht der einzige Mensch sein, der bei der Arbeit dieser Frage begegnet. Daher schreibe ich einige Vorschläge, die mir einfielen, auch in diesem Blog nieder. Du kannst gerne eigene Textvorschläge und Kriterien hinzufügen.
***
AUF DEUTSCH
Texte im Netz
Datenschlag: Sadomasochismus – Was ist das? Eine kurze Einleitung für Neugierige.
SMJG e.V., BDSM-Jugend online: BDSM – Was ist denn das?
Bundesvereinigung Sadomasochismus e.V.: Textpool der BVSM.
Buch
Passig, Kathrin und Strübel, Ira (2000): Die Wahl der Qual. Handbuch für Sadomasochisten und solche, die es werden wollen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
***
AUF ENGLISCH
Texte im Netz
Wright, Susan, with contributions from Charles Moser: What is SM?
Brame, Gloria (2000): Five fallacies about SM.
Spricht gezielt einige Vorurteile an. Auszug aus Kapitel 1 in Brame, Gloria (2000): Come Hither. A Commonsense Guide to Kinky Sex. New York: Fireside Book.
Ein Textauszug von Kapitel 1, einschließlich einer Liste sexueller Grundrechte, steht als Vorschau auf der Webseite der Library of Congress zur Verfügung.
Miesen, Don (1981): A view on Sadomasochism.
Guter nicht-akademischer Einführungstext aus einer Innenperspektive. Im Internetarchiv. Dieser Text befand sich vor dem Neudesign auf der Website der Society of Janus.
Reiersøl, Odd and Skeid, Svein (2011): The ICD-11 Revision. Scientific and political support for the Revise F65 reform. Second report to the World Health Organization.
Ein aktueller Überblick über wissenschaftliche Forschung zu Sadomasochismus und Fetischen, und Folgerungen.
Reiersøl, Odd and Skeid, Svein (2009): ICD Revision White Paper to WHO from Revise F65. Revise F65’s first report to the World Health Organization.
Artikel in Büchern
Kleinplatz, Peggy J. and Moser, Charles (2006): Sadomasochism: Powerful Pleasures. London: Routledge.
Langdridge, Darren and Barker, Meg (2007): Safe, Sane and Consensual: Contemporary Perspectives on Sadomasochism. New York, NY: Palgrave Macmillan.
Zum Beispiel: Kleinplatz, Peggy J., and Moser, Charles (2007). Is SM pathological? pp. 55-62.
Generell zum Thema sexueller Diversität
Brame, Gloria (2011): The Truth About Sex, A Sex Primer for the 21st Century. Volume I: Sex and the Self. Terrace, B.C.: CCB Publishing.
Einleitung: Sex matters, Why we don’t know what we know about sex, Diversity is normal, A universal solution. pp 1-8.
Zeitschriftenartikel
Journal of Homosexuality, Volume 50 (Issue 2/3), 2006.
***
KRITERIEN
Einige Kriterien für meine Textauswahl.
Teilweise sind dies Kriterien, welche die Textauswahl als Ganzes zu meiner Freude erfüllt. Teilweise sind dies Desiderata, die, wie ich hoffe, in noch zu verfassenden Einführungstexten mehr Beachtung finden werden.
1. Theoretische Texte über BDSM
Keine praktischen Anleitungen (wie gewünscht). Idealerweise an Leser im Allgemeinen gerichtet.
Einige der oben genannten Texte erfüllen dieses Kriterium nicht, da sie Leser als Menschen ansprechen, die potentiell persönliche sadomasochistische Interessen haben, nämlich die Texte von Don Miesen, Kathrin Passig und Ira Strübel, Datenschlag und teilweise BVSM. Da ihr Schwerpunkt theoretische Betrachtung und nicht praktische Anwendung ist, glaube ich, dass sie auch für ein allgemeines Publikum als nützliche Lektüre erweisen.
2. Auf der Basis sexueller Menschenrechte.
Sexuelle Menschenrechte ‘beinhalten das Recht aller Personen, frei von Nötigung, Diskriminierung und Gewalt, (…) ihre Partner zu wählen; zu entscheiden, ob sie sexuell aktiv sein möchten oder nicht; auf einvernehmliche sexuelle Handlungen (…)’.
3. Kein Übermaß von BDSM-Jargon.
4. Gegen Diskriminierung ausgerichtet.
Vergangener und gegenwärtiger Diskriminierung gewahr.
5. Einige Vorurteile direkt ansprechen.
Da es (leider) wahrscheinlich ist, dass Leser in der Vergangenheit einige irrige Annahmen und Stereotypen kennen gelernt haben, ob sie ihnen nun Glauben schenkten oder nicht.
6. Die freiwillige Einvernehmlichkeit aller beteiligten Personen ansprechen.
BDSM als Möglichkeiten zeigen, miteinander Beziehungen zu haben und zu interagieren, an welchen sich zu beteiligen die betreffenden Leute freiwillig wählen. Als Gegenstück zur Freiwilligkeit der Person, die bottom/devot ist, ein Hinweis auf die Freiwilligkeit der Person, die top/dominant ist.
7. Unterschiede zwischen BDSM und Misshandlung erläutern.
Dies ist eine offene Frage, die Leute haben können. Ein differenzierter Blick auf innere Absichten, Freiwilligkeit und Wirkungen. Kein reduktionistisches Vorgehen, welches Missverständnisse auch schon zu einer verzerrten ‘Misshandlung + passives Hinnehmen’-Formel verändert haben. Die Kenntnis, dass es unter Sadomasochisten, wie auch unter Nicht-Sadomasochisten, Leute gibt, die Misshandlungen verüben.
8. Kein Bemühen darum, abschätzige Begriffe positiv zu besetzen.
Reclaiming kann für Insidergruppen amüsant sein (“Wir sind stolze Perverse!’), hat aber geringen bis gar keinen Informationswert, wenn Konzepte wie “Perversion”, “Abweichung”, “Verirrung” oder “Degeneration” auf ohnehin überholten Ideologien beruhten.
9. Kein Re-centering.
Kein selbstverherrlichendes Wunschdenken als Gegenreaktion auf Diskriminierung. (Beispiele von Re-centering: “Ich will nicht Teil einer sexuellen Minderheit sein, ich will wie alle sein! Also tue ich so, als seien alle Menschen irgendwie sadomasochistisch, wenn sie es sich nur eingestünden.” Oder ‘Ich kann mir ein glückliches, erfülltes Liebesleben ohne BDSM für mich selbst nicht vorstellen. Ich projiziere das jetzt einfach auf die Menschheit insgesamt, und tue so, als könne niemand ein glückliches, erfülltes Liebesleben ohne BDSM haben.” Oder “Alle, die nicht mögen, was ich mag, sind offensichtlich verklemmt/ängstlich/langweilig.”)
10. Keine Unterstützung sexistischer Ideologie.
11. Keine Unterstützung von Heteronormativität.
12. Einblicke in die enorme Binnendiversität im BDSM.
Verschiedene Interessen, Erfahrungen, Gefühle, Aktivitäten, Geschlechter, Orientierungen, Beziehungen, Handlungen, Kombinationen, Variationen…
Anmerkung:
Zum Thema Binnendiversität wünschte ich mir, dass mehr Einführungstexte darauf hinweisen würden – unter Würdigung empirischer Forschungen derer, die Pionierarbeit auf diesem Gebiet geleistet haben und leisten – wie wenig wir von der Auswertung bisheriger Forschungsergebnisse über demographische Fragen wissen können. Wir können wissen, dass es viele unterschiedliche Interessen und Aktivitäten gibt; alle Zahlenangaben und quantitative Angaben wie “mehr”, “weniger” oder “die meisten” sind mit beträchtlichem Vorbehalt zu genießen. Viele Fragen bleiben noch für zukünftige Forschung offen.
Einige Beispiele:
Eine empirische Studie, die Teilnehmer in der “Szene” befragt, trifft keine Aussagen bezüglich der Leute, die Sadomasochismus als Teil ihres Privatlebens tun, und zu keinen Gruppen, Klubs oder Veranstaltungen gehen.
Eine Umfrage, die nur nach “weiblich oder männlich?” fragt, kann Leute nicht zeigen, die ihr eigenes Geschlecht als nicht-binär identifizieren.
Asexuelle Leute kommen in Ergebnissen von Fragebögen, bei denen Asexualität nicht als mögliche Antwort vorgesehen ist, nicht vor.
Was Daten angeht, die in BDSM-Gruppen gesammelt werden, können diese möglicherweise verzerrt sein, je nachdem, welche Eigenschaften jede einzelne lokale Gruppe hat. Gruppen, Klubs und Veranstaltungen sind keine zufälligen Stichproben aus sadomasochistischen Anteilen einer Bevölkerung.
Leute, die in der betreffenden Gruppe negative Erfahrungen gemacht haben (Beispiele: Leute, denen anmaßende Außenstehende vorschreiben, wie sie sich ihrer Rolle gemäß allzeit “korrekt” zu verhalten hätten; heterosexuelle, bisexuelle und pansexuelle dominante Frauen, die Erfahrungen damit gemacht haben, dass Leute sie als Vorzeigefrau verwenden, um zu zeigen, wie nicht-diskriminierend die Gruppe angeblich sei, und gleichzeitig ihre Sexualität herabwürdigen; Männer mit Interesse daran, Bottom und/oder devot zu sein, die sexistischen Vorurteilen begegnen; Leute, die Vorurteilen gegen Switcher ausgesetzt sind) zögern möglicherweise, ihre persönlichen Interessen mitzuteilen, teilen sie nur selektiv mit, oder haben möglicherweise jene Gruppe schon lange aufgegeben, bevor die Forscher eintrafen.
Darstellungen von Sadomasochismus, sowohl in Kulturen allgemein als auch in spezifischen Subkulturen, sind keineswegs von vornherein vielfältig. Geschlechter, Orientierungen, Ethnizität, Körperform, und viele andere Faktoren können dazu beitragen, ob mediale Darstellungen und Selbstdarstellungen von Gruppen bei jemandem positiv anklingen oder nicht.
Ob nun Gruppen oder Privatleben im Mittelpunkt von Forschung stehen, gegenwärtig wird ein Prozentsatz unbekannter Größe von Frauen mit Interesse an Dominanz und/oder Sadismus, die Männer attraktiv finden, nicht einmal dabei sein, um an der Umfrage teilzunehmen.
Es kann von den spezifischen Interessen einer Person innerhalb des weiten Felds ‘BDSM’ abhängen, ob es wahrscheinlicher ist, dass jemand auf Darstellungen stößt, die ausschließend, negierend und entfremdend wirken, als auf Darstellungen, die sie mit sich selbst in Verbindung bringen können, und/oder die sie attraktiv finden. Dies kann einen erheblichen Einfluss darauf haben, ob Leute ihre eigenen inneren Wünsche und möglicherweise auch Aktivitäten überhaupt mit einem Konzept namens ‘BDSM’ in Verbindung bringen.
Wenn wir uns in der Welt jenseits der Regionen umsehen, wo schon einige Umfragen gemacht worden sind, erscheinen demographische Fragen zu sadomasochistischen Interessen und Aktivitäten meist als ein großes Fragezeichen.
13. Interessen an BDSM als Möglichkeiten innerhalb des weiten Felds menschlicher Interessen, Aktivitäten, Sexualität und Beziehungen zeigen.
Zu diesen Thema ein Zitat von Emily Nagoski.
‘And the problem is built into science as it has been practiced for yonks: measurement of central tendencies, with the assumption that “variation around the mean” is just insignificant noise (…)
With sex, the central tendency is close to meaningless. What’s important is the variability that has been traditionally ignored. (…)
This was Darwin’s genius: the ability to see the underlying meaning in variability. It was Kinsey’s genius too: to (…) see only variety, not deviance. And it is the future of the study of the evolution of human sexuality. Look at the variety, and see the principle underlying it.
When we have the right principle(s), everything will fit, all variety will be accounted for, and no sexual variety – barring the infringement of rights (which gets very complicated very fast but we’ll just leave that alone for now) – will be any better or worse (…)’
14. Keine erotischen/pornographischen Illustrationen
Ein Kriterium, das sich nicht auf Texte bezieht: Ich werde Leute nicht zu einer Webseite schicken, die mit erotischen/pornographischen Bildern illustriert ist, wenn es ihre Absicht ist, einen Text für ein Seminar oder eine andere Bildungsveranstaltung zu lesen.
Dies respektiert das Recht jedes Menschen, zu wählen, ob sie erotische/pornographische Bilder anschauen wollen oder nicht, und im Falle, dass sie erotische/pornographisch Bilder anschauen wollen, zu wählen, welche Genres von Erotika/Pornographie sie anschauen wollen, und welche Genres sie nicht anschauen wollen.
Webseite, die dieses Kriterium nicht erfüllt: SMJG. Die rotierenden Bilder einiger weißer Menschen in Fesseln zeigen jedoch immerhin nicht bloß Leute eines Geschlechts, und sind ziemlich dezent und symbolisch. Zu dem hier beschriebenen spezifischen Verwendungszweck würde ich gar keine Bilder von Menschen vorziehen.
Siehe auch Punkt 12. zu Diversität und Darstellungen.
***
FÜR AUTOREN
Theoretische einführende Texte über ‘BDSM im Allgemeinen’, zugänglich für Leser mit wenig oder keinem einschlägigen Vorwissen, sind nicht leicht zu schreiben. In mancher Hinsicht können sie schwieriger zu schreiben sein als ein Text zu einer bestimmten Frage, oder ein Text, der ein bestimmtes Erlebnis beschreibt.
Theoretische (nicht praktische) Einführungen sind sowohl für Leser geeignet, die keine eigenen Interessen an BDSM haben, aber wissensdurstig sind, als auch für Leser, die möglicherweise eigene Interessen im Bereich BDSM haben.
Praktische Einführungen mit dem Schwerpunkt “Wenn du Anfänger/Anfängerin bist, rate ich dir Folgendes zu tun” sind sehr nützlich. Ebenfalls sehr nützlich sind Texte, die keine Annahmen über die Leserschaft machen, außer dass sie einen Wunsch nach vorurteilsfreier Information haben.
Gewissenhafte Autoren werden sich im Klaren darüber sein, dass in jeder Einführung, die sie schreiben, mit einigen Mängeln zu rechnen ist. Ich würde gerne Autoren zur Tat ermutigen, wenn sie sich mit dem Gedanken tragen, selbst einen solchen grundlegenden theoretischen Einführungstext zu schreiben. In nicht-wissenschaftlicher und wissenschaftlicher Form. Länger und kürzer. Für interessierte Leser ist Quellenvielfalt eine gute Sache.
***
This text in English: Introductory Texts About BDSM for Educational Settings
***